Diese Grafiksammlung mit 8 Arbeiten von Vlado Ondrej und Maria Ondrej
Die Sammlung wird durch einen Text von der Kunstwissenschaftlerin Dr. phil. Verena Tintelnot begleitet.
Auflage 12
Anwesend Abwesendes
Die Ikone, das für einen religiösen Kultzusammenhang geschaffene Bild, wurde über ein Jahrtausend hinweg, vom fünften bis zum 15. Jahrhundert, zu einem der wichtigsten Zweige der europäischen Tafelmalerei. Ihre Wirkungsgeschichte reicht weit darüber hinaus und ihr Einfluss ist bis heute sichtbar. Zahlreiche Künstler_innen ließen sich aus den unterschiedlichsten Gründen von ihr inspirieren.
Grundlage von Maria Ondrejs und Vlado Ondrejs acht Radierungen sind Ikonen aus der Zeit zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert. Sie stammen aus den Holzkirchen des nordöstlichen Gebietes der Slowakei, der Region, in der Vlado Ondrej aufgewachsen ist und in der sich die westlich-römische und die östlich byzantische Kultur berühren. In einem interaktiven Prozess bearbeitet das Künstlerpaar eigene Abbildungen dieser Ikonen mit Hilfe des Radierverfahrens. Diese Zusammenarbeit ist auch eine Begegnung zweier Künstlerpersönlichkeiten mit unterschiedlichen kulturellen Wurzeln: einerseits eher westeuropäisch und andererseits eher osteuropäisch geprägten. Maria Ondrej und Vlado Ondrej übermalen, zeichnen, decken Bereiche ab und setzen neue Farbflächen in leuchtenden Farben. Ein wesentliches Gestaltungsmittel dabei ist das Licht. Ondrejs experimentieren mit verschiedenen Lichtintensitäten. So entstehen vielschichtige Strukturen und Räume, die wie miteinander verwoben und der Schwerkraft enthoben zu sein scheinen. Die alte Ikone bleibt zumeist sichtbar und ist in den neuen, manchmal fast surreal wirkenden Bildern wie eine kostbare Erinnerung aufbewahrt.
Auffällig ist, dass bei nahezu allen Radierungen die zentrale Heiligenfigur herausgeschnitten ist. Durch die brachiale Intervention des Herausschneidens entziehen sich die Gestalten unserem Blick und wirken vornehmlich durch ihren Umriss, aus ihrer Abwesenheit heraus auf uns. Paradoxerweise entsteht gerade durch diese Leerstellen eine neue Präsenz. Unsere Neugierde wird geweckt die alten Inhalte der Heiligenbilder mit ihren Legenden zu verstehen. Gleichzeitig werden die Radierungen durch die Abwesenheit der zentralen Heiligengestalt sowie durch die räumlichen Unwägsamkeiten und zeitlichen Überlagerungen auch für die subjektiven Vorstellungen und Wünsche des Betrachters zugänglich. Ein intimer Dialog kann entstehen. Die Aura der Ikonen wirkt einerseits fort. Andererseits bekommen die Radierungen durch ihre formale Neugestaltung – ihr abwesend Anwesendes – eine neue, von religiösen Wahrheiten befreite, spirituelle Dynamik.
Verena Tintelnot